Landstreicher im Kälberhardt

Neulich wurde ein offensichtlich ärmlich aussehender Mann bettelnd in Großbottwar beobachtet. Versuche, seinen Namen, seine Herkunft und seinen Wohnort zu erfahren, schlugen fehl, da er nur französisch sprach und niemand ihn verstand. Sobald sich eine Amtsperson näherte, ergriff er die Flucht. Ahnte er, dass seine Personalien aufgenommen und ihm eine Unterkunft im Obdachlosenasyl angeboten werden würde? Betteln ist in Deutschland verboten und die Kommunen sind angehalten, Bedürftigen eine Unterkunft anzubieten. Offiziell gibt es keine Obdachlosigkeit. Diese kurze Episode, deren Zeugin ich zufällig wurde, brachte mir einen Fall in Erinnerung, wie er sich im 18. Jahrhundert hier auf der Markung Kaltenwesten zugetragen hat.

Zu allen Zeiten gab es Menschen, die arm und ohne Heimat durch die Lande zogen. In den Städten wurden sie früher meist eingesperrt sobald man ihrer habhaft wurde und schnellstmöglich mit der sogenannten Bettelfuhre außerhalb der Stadtmauern gebracht. Mit Sozialfürsorge konnten nur die Ortsarmen rechnen, also die Menschen, die am jeweiligen Ort das Bürgerrecht besaßen. Wie mit Ortsfremden verfahren wurde, zeigt ein Fall, der sich im Jahr 1765 ereignete und im Protokollbuch des herrschaftlichen Amtskellers auf Liebenstein notiert wurde.

Am 14. Oktober 1765 entdeckt der Jägerbursche Carl Friedrich Gunderoth im herrschaftlichen Wald, der Kälberhardt genannt, einen verdächtigen Kerl. Gunderoth war gerade im Weinberg seines Herrn, des Forstknechts Johann Wolfgang Binder beschäftigt. Binder bewohnte seit der Heirat mit einer Tochter seines Amtsvorgängers Johann Schwarz den sogenannten Jägerhof in Neckarwestheim. Der Fleckenschäfer Jerg Albonisius bestätigte Gunderoths Beobachtung. Auch er hatte eine Person gesehen. Auf Anordnung Binders ging Gunderoth in den Kälberhardt, um den verdächtigen Kerl zu suchen. Zu seiner Überraschung traf er dort nicht nur einen, sondern vier Männer an. Sie hatten sich gerade ein Feuer gemacht. Das gesammelte Brennholz und ein Sack Kartoffel ließen darauf schließen, dass sie noch länger im Wald bleiben wollten. Auf Gunderoths Aufforderung zeigten sie ihre Ausweispapiere und folgten ihm widerstandslos nach Kaltenwesten in die Amtsstube des Amtskellers. Als Jägersbursche war Gunderoth bewaffnet, so dass ein Widerstand sicher schlecht für die vier Männer ausgegangen wäre. Der Amtskeller Baltas Adelhelm sprach glücklicherweise etwas Französisch, denn die Festgenommen waren Franzosen und kein Wort des Deutschen mächtig. Adelhelm begann mit dem Verhör.

Der eine hieß Martel, war katholisch und kam aus Chaumy. Er war, wie er zu Protokoll gab, aus der Königlich Französischen Miliz desertiert und fürchtete nun in Frankreich seine Erhängung, weswegen er sich nach Deutschland abgesetzt habe und nun als Bettler durchs Land zog. Sein Alter gab er mit 22 ½ Jahren an, „unter der Meß“ hatte er eine Körpergröße von 6 Schu und 4 Zoll, dies entsprach im metrischen Maß 1,83 m. (1 Schuh = 28,64 cm, 1 Zoll = 2,86 cm) Etwas genauer werden die drei weiteren Männer beschrieben. Und wir werden bei der Urteilsverkündung sehen, warum dies für das weitere Verfahren wichtig war.

Der zweite „Kerl“ konnte sich mit einem am 22. September 1765 ausgestellten Pass in Cöln am Rhein als Joseph Colmey ausweisen. Auch er war Franzose und sprach kein Wort Deutsch, auch er war desertiert und aus Furcht vor einer Strafe nach Deutschland geflüchtet, wo er sich mit Betteln durchschlug. Wie Martel war er mager, hatte eine blasse Gesichtsfarbe und gelbliche Haare. Bekleidet war er mit einem Camisol, das ist eine Art Ärmelweste mit niedrigem, stehenden Kragen und Knöpfen, die bis zu den Knien reichen konnte, einem weißen „Brusttuch“, blauen Hosen und schwarzen Strümpfen. Diese waren bis ins 19. Jahrhundert nicht oder nur selten gestrickt, sondern zugeschnitten und genäht aus Leder, Tuch, Leinen. Sie waren meist etwas faltig und wenig adrett. Auffällig war sein krummer Hals, den er von einer „Blessur“ (Verletzung) im Genick davongetragen hatte. Joseph Colmey war 5 Schuh und 10 Zoll groß (1,71 m.) In einem alten Ranzen trug  er seine wenigen Habseligkeiten bei sich,  das waren allerhand „Blez“ (Flicken, Lumpen) und Feuerstein sowie ein „Schnapper“, ein Klappmesser.

Auch der dritte war ein französischer Deserteur, der, da er nirgends unterkommen konnte, sich mit Betteln durchschlug. Er war 21 Jahre alt, hatte eine blasse Gesichtsfarbe und braune zusammengebundene Haare. Er maß 5 Schuh und 9 Zoll (1,68 m). Bekleidet war er mit einem schwarzen Camisol, leinen Hosen und grauen Strümpfen. In seinem Sack trug er einen irdenen „Hafen“ (Keramiktopf) und „Grundbirnen“ (Kartoffeln).

Der älteste von den Vieren nannte sich Joan Rischer, er war 25 Jahre und Weber. Auch er ein Deserteur, der sich, weil er keine Arbeit bekam, mit Betteln durchschlug. Er hatte schwarze Haare und ein rotgeflecktes Gesicht. Bekleidet war er mit einem braunen Camisol, weißen wollenen Hosen und blauen Strümpfen. In seinem Ranzen befanden sich etwas Handwerkszeug, zwei „liederliche“ (schlechte) Messer, eine Schere in einem Futteral dazu ein paar schlechte „Schnupptücher“.

Nachdem die Personalien und die erkennungsdienlichen Daten aufgenommen waren, fällt der Amtsknecht Baltas Adelhelm auf der Basis der damaligen Rechtsvorschriften sein Urteil. Und dieses fällt je nach äußerem Erscheinungsbild unterschiedlich aus.

Der erste von Ihnen, Martel, der Größte von den Vieren mit einer Körpermaß von über 1,80 m soll am nächsten Tag über die Rekrutierungsstellen zur Garnison nach Ludwigsburg gebracht werden. War er doch aus dem französischen Militär desertiert, sicher weil er den Drill und die schlechte Behandlung nicht mehr ertragen konnte, um nun im württembergischen Heer zu dienen. Er kam quasi vom Regen in die Traufe. Ausschlaggebend dafür war seine Körpergröße. Der Herzog suchte lange Kerle und junge Männer, die sich etwas zu Schulden kommen ließen, hatten oftmals nicht mal die Wahl zwischen Militär und Gefängnis.

Die drei anderen waren aufgrund ihrer Größe für das Militär„untauglich“. Sie wurden zu den für Bettel und Landstreicherei üblichen Strafen verurteilt. Nach zwei Tagen Haft bei Wasser und Brot im Ortsarrest schaffte man sie einfach über die Landesgrenze, nicht ohne die eindringliche Ermahnung, nie mehr württembergischen Boden zu betreten. Andernfalls drohten härtere Zuchthausstrafen. Die steckbrieflichen Beschreibungen der drei Männer wurden zur Veröffentlichung an die württembergischen Amts- und Intelligenzblättern weitergeleitet. Weit musste man mit den unerwünschten Franzosen nicht fahren. Bereits hinter Brackenheim lag die Landesgrenze, dahinter das Ausland, das Herzogtum Baden, wo man die drei ihrem Schicksal überließ.

Brigitte Popper, M.A.
12.12.2017

Quelle:
Amtsprotokoll der Kellerei Liebenstein StAL (Staatsarchiv Ludwigsburg) Gl 140 Bü 524 Bl. 827b.
Abbildung: Titelbild des Schwäbischen Bauernkalender 1772

 

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